Der Stumme Schrei                                      


Die ersten Sonnenstrahlen wollten mich wecken. Sie erreichten mein Gesicht, ich spürte die Wärme der Sonne.  

Das Frieren in meinem Innersten war für einen Moment verflogen.  

Ich schälte mich aus meinem Bett heraus und begrüßte den Tag. Die Sonne verließ mein Gesicht, die Kälte war sofort wieder spürbar.  

Ich möchte nicht mehr frieren! Ich möchte die Wärme in mir spüren! Sie soll ein zu Hause bei mir finden!  

Ich gehe zum Fenster um der Sonne nah zu sein. Doch sie will anscheinend nicht bei mir sein. Eine Wolke schiebt sich gerade davor.  

Ich verlasse mein Schlafzimmer und hoffe darauf, dass mich die Sonne wieder erreichen wird.  

Ich habe mir für heute frei genommen. Ich will einmal nur für mich alleine da sein.  

Ich will das Haus verlassen. Doch welches Haus? Das Innere oder das erbaute Haus?  

Ich wollte nicht mehr nur denken. Ich wollte endlich fühlen, mich spüren: Es gibt mich wirklich! Das Gefühl in mir zu spüren: Ich lebe!  

Ich ziehe mir die Schuhe an: laufen, einfach laufen. Mich spüren.  

Meine Füße laufen mit mir, nicht ich mit ihnen. Ich lass sie laufen, ohne zu wissen wo ich ankommen werde.  

Die Sonne meint es gut mit mir, sie wärmt mir den Rücken.  

Meine Füße brachten mich zum Strand, sie wollten ans Wasser. Ich schaute mich um, ich war alleine. Ein vertrautes Gefühl, mich alleine zu fühlen.  

Meine Füße blieben stehen. Mein Körper wollte, dass ich mich setzte. Ich spürte den weichen Sand unter mir: Er gab nach.  

Ich nahm den Sand in meine Hände und spürte, wie er durch sie hindurch gleitet. Ich wollte ihn auch unter meinen Füßen spüren.  

Meine Schuhe nahm ich in die Hände und meine Füße wollten sich wieder bewegen. Doch diesmal fingen sie nicht an zu laufen. Sie wählten für sich einen neuen Rhythmus. Sie wühlten sich in den weichen Sand hinein.  

 

 

Mit jedem Schritt krallten sich meine Zehen in den Sand.  

Ich sah das Wasser. Das Wasser war sehr ruhig, es verharrte in seinen Bewegungen.  

Ich setzte mich an das Wasser, wollte ihm nahe sein. Ich war froh, alleine zu sein. In mir spürte ich eine Traurigkeit. Wo kam sie plötzlich her, diese Traurigkeit?  

In diesem Moment setzte auch das Wasser ein, sich zu bewegen. Meine Tränen liefen mit.  

Ich war so mit meinen Tränen beschäftigt, dass ich nicht einmal spürte, ich bin nicht mehr alleine.  

Eine Frau saß neben mir, sie sagte nichts. Sie schaute nur auf das Wasser.  

Ich sah diese Frau an. Warum setzte sie sich zu mir? Der Strand war weitreichend, doch sie wählte den Platz neben mir. Warum spricht sie nicht mit mir? Nimmt sie mich überhaupt wahr?  

Ich sah sie an, nahm meinen Mut zusammen und stellte ihr eine Frage.  

„Warum sitzt du neben mir?“  

Die Frau sah mich an: „Ich denke, es ist gut, dass ich hier bin. Ich habe mir den richtigen Platz ausgesucht.“  

Sie schaute wieder auf das Wasser, sie beobachtete jede einzelne Bewegung des Wassers.  

Die Frau neigte ihren Kopf zu mir. „Tust du mir einen Gefallen?“  

Ich blicke die Frau an und weiß nicht, was ich machen sollte. Ich kenne sie nicht und doch habe ich keine Angst vor ihr.  

„Sag, was du von mir möchtest und ich schaue, ob ich es kann.“  

Statt zu antworten, lächelte sie mich an. Ich musste mich in Geduld üben und wartete auf das was als Nächstes kommen würde.  

„Steh auf und gehe auf das Wasser zu. Warte bis das Wasser dich erreicht und nicht umgekehrt.“  

Mehr kam von ihr nicht. Ohne noch einmal darüber nachzudenken tat ich es. Ich musste nicht lange warten. Das Wasser erreichte meine Füße. Es war wie ein Sog, der meine Füße mitnehmen wollte. Ich stemmte mich dagegen.  

„Du kannst dich wieder setzen, wenn du möchtest.“  

„Was hat das Ganze zu bedeuten?“ wollte ich von ihr wissen.  

„Du lässt dich vom Fluss des Lebens nicht mitnehmen, du stemmst dich dagegen.“  

Ich sah sie an und wusste nicht was ich sagen sollte. Ich entschied mich, zu schweigen.  

Die Frau sah mich wieder an.  

„Ich sage dir jetzt etwas. Nimm es so hin, hinterfrage es nicht, nimm es nur zur Kenntnis, mehr möchte ich nicht.“  

Ich sah die Frau an, nickte ihr zu und war gespannt, was sie mir zu sagen hatte.  

„Die Gefühle eines Menschen sind unwiderruflich. Sie wollen frei sein. Menschen neigen dazu, sie in sich gefangen zu halten. Weil sie sich nicht so geben wollen, wie sie in Wahrheit ihres Seins sind. Sie lassen sich nicht selber laufen. Sie bestimmen, wo es langgeht.  

Warum das so sein muss möchtest du nicht wissen, musst du auch nicht.  

Die Gefühle sind. Sie bestimmen. Gefühle lassen sich nicht einsperren. Wenn sie nur den Hauch einer Freiheit spüren und einmal das Tageslicht erreicht haben, lassen sie sich nicht mehr verdrängen. Es hat etwas von einem Kampf an sich, wobei der Sieger schon feststeht. Die Gefühle zwingen oder werden dich in die Knie zwingen. Du kannst dich nicht dagegen wehren. Du kannst sie leugnen, ignorieren, mehr aber nicht. Sie verfolgen, sie lassen dich nicht mehr ruhen. Sie wollen gewinnen. Wenn du morgens in den Spiegel schaust, und das Gefühl dich bestimmt, siehst du auf einmal Etwas ganz anders. Nur: Die meisten wollen nicht hinsehen. Menschen kämpfen gegen sich selbst, wundern sich, warum ihnen nichts gelingt. Sie suchen sich Gegner aus und spüren nicht einmal, dass sie ihr eigener Gegner sind.“  

Die Frau stand auf, sie wollte gehen. Ich wollte sie aufhalten, ihr noch etwas sagen, doch ich spürte, die Zeit war um. Sie hatte mir gesagt was nötig war um zu begreifen.  

Ich sah ihr hinterher. Sie drehte sich noch einmal zu mir um.  

„Lass deinen Schrei nicht verstummen, sondern lass ihn hörbar werden.“ Mit diesem letzten Satz verließ sie mich.  

Ich schaute auf das Wasser hinaus. Ich wollte wieder ins das kühle Nass. Ich stellte mich hin, wollte, dass mich das Wasser erreicht. Das Wasser setzte sich in Bewegung. Es erreichte mich, ich stemmte mich dieses Mal nicht dagegen, sondern lies mich führen. Ich tauchte immer mehr in das Wasser ein. Ich ließ mich von dem Fluss des Lebens mitnehmen.  

Ich spüre, wie ich eins mit dem Wasser werde. Ich schwimme, doch ich spüre: Ich werde nicht untergehen. Ich werde wieder sicher ans Ufer kommen!